Wo die Digitalisierung funktioniert – und wo noch nicht!
Das Gesundheitswesen und die Industrie funktionieren sehr unterschiedlich. Entsprechend unterschiedlich sind die Bedürfnisse und Anforderungen beider Branchen, wenn es um die Digitalisierung geht. Wo funktioniert sie heute schon, wo nicht? Und wo gibt es noch Optimierungspotenzial?
Wir haben Prof. Dr. med. Samy Bouaicha, Leitender Arzt an der Universitätsklinik Balgrist, und Oliver Bailer, Head of Integrated Solutions bei der Kistler Gruppe, auf den Zahn gefühlt.
Samy, wo funktioniert die Digitalisierung im Gesundheitswesen heute schon gut?
Samy Bouaicha: Vor allem bei kleineren und weniger anspruchsvollen Aufgaben funktioniert die Digitalisierung schon sehr gut. Zum Beispiel bei Schichtverschiebungen. Heute kann ein Mitarbeitender über ein digitales Formular einen Antrag stellen, den ich mit wenigen Klicks genehmigen kann.
Du sprichst die internen Prozesse an. Aber profitieren auch die Patientinnen und Patienten davon?
Samy Bouaicha: Auf jeden Fall. Die Digitalisierung vereinfacht die Papierarbeit im Krankenhaus und macht die Zusammenarbeit viel effizienter. Zum Beispiel scannen wir heute alle Patientenberichte direkt ein. Ärzte und andere an der Behandlung beteiligte Spezialisten können sie dann jederzeit und von jedem Arbeitsplatz aus einsehen.
Gibt es weitere Beispiele für erfolgreiche digitale Anwendungen?
Samy Bouaicha: Zum Beispiel die Befundung von Röntgenbildern. Diese erfolgt heute im Vergleich zu früher ausschliesslich am Bildschirm – und das ohne Qualitätsverlust. Das ist aus meiner Sicht eine echte Erfolgsgeschichte.

Prof. Dr. med. Samy Bouaicha ist leitender Arzt an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich und Chefarzt im Spital Männedorf.
Zeitsparendes Planungstool
Und was ist die Konsequenz dieses Ansatzes?
Samy Bouaicha: Im schlimmsten Fall hat man verschiedene Planungstools für Operationssäle, Sprechstunden und andere Anwendungen. Das ist umständlich und kostet die Anwender unnötig Zeit. Dass es auch anders geht, sehe ich an der Uniklinik Balgrist. Dort arbeiten wir mit einem Klinikinformationssystem, das sehr umfassend ist.
Vom Gesundheitswesen in die Industrie: Wie ist die Lage bei Kistler, Oliver?
Oliver Bailer: Wir müssen zwei Ebenen unterscheiden – die Ebene unserer Kunden und unsere eigenen Prozesse im Unternehmen. Kistler hat sich in den letzten Jahren vom reinen Sensorlieferanten zum Informations- und Lösungsanbieter entwickelt. Das heisst, wir unterstützen unsere Kunden in der Messtechnik mit integrierten Lösungen bei der Sicherstellung ihrer Qualität und Prozesssicherheit.
Und wo klappt die Digitalisierung noch nicht?
Samy Bouaicha: Wenn es darum geht, eine komplexe Prozesslandschaft zu digitalisieren, sind die Erfolgschancen deutlich geringer. Heute wird fast überall versucht, Prozesse zu digitalisieren, weil es gerade in Mode ist. Wenn man aber nicht auf eine ganzheitliche Lösung setzt, entsteht ein Flickenteppich aus Systemen und Tools, die nicht oder nur schlecht miteinander integriert sind.
Womit habt ihr besonders gute Erfahrungen gemacht?
Oliver Bailer: Hier sticht unser Manufacturing Execution System (MES) hervor. Es hilft uns, die internen Prozesse besser zu steuern und damit unsere Effizienz zu steigern.
Wo liegen die Gefahren bei Digitalisierungsprojekten?
Oliver Bailer: Oft wendet man unverhältnismässig viel Zeit für die Bedienung und Pflege bestimmter Tools auf. Dann kann es passieren, dass man sich in der Fülle der verfügbaren Daten und Informationen verliert. Es braucht deshalb in jedem Fall eine klare Strategie, mit welchen KPIs man ein Unternehmen steuern will.
Interne Prozesse besser steuern
Womit habt ihr besonders gute Erfahrungen gemacht?
Oliver Bailer: Hier sticht unser Manufacturing Execution System (MES) hervor. Es hilft uns, die internen Prozesse besser zu steuern und damit unsere Effizienz zu steigern.
Wo liegen die Gefahren bei Digitalisierungsprojekten?
Oliver Bailer: Oft wendet man unverhältnismässig viel Zeit für die Bedienung und Pflege bestimmter Tools auf. Dann kann es passieren, dass man sich in der Fülle der verfügbaren Daten und Informationen verliert. Es braucht deshalb in jedem Fall eine klare Strategie, mit welchen KPIs man ein Unternehmen steuern will.
Samy, wo gibt es im Gesundheitswesen noch weiteres Potenzial?
Samy Bouaicha: In der Medizin kommt es sehr auf die spezifische Anwendung an. Ich kann mir vorstellen, dass die Digitalisierung im Bereich der Radiologie oder der Krebsvorsorge in den nächsten Jahren einiges verändern wird. In der Orthopädie hingegen wird es noch länger dauern, bis beispielsweise der Einsatz von Robotern im klinischen Alltag angekommen ist.

Oliver Bailer ist Head of Integrated Solutions und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Kistler Gruppe, einem auf Messtechnik und Sensoren spezialisierten, international tätigen Unternehmen mit Hauptsitz in Winterthur.
Gibt es weitere Anwendungen für die Zukunft?
Samy Bouaicha: Spannende Möglichkeiten sehe ich im Bereich der Augmented oder Virtual Reality. In klinischen Versuchen werden heute zum Beispiel Virtual-Reality-Brillen getestet. Damit können sich Ärztinnen und Ärzte während einer Operation alle möglichen Informationen einblenden lassen.
Und sie sieht es in der Industrie aus?
Oliver Bailer: Ein Schwerpunkt ist der Aufbau und die Pflege von Wissensmanagementsystemen, in denen zum Beispiel Versuchsberichte, Produkt- oder Anwendungsbeschreibungen, aber auch Patente und Kundeninformationen eines Unternehmens zentral abgelegt werden. Wenn man solche umfassenden Informationen in individualisierbarer Form sowohl intern als auch zum Teil den Kunden zur Verfügung stellen könnte, wäre das ein grosser Schritt in Richtung echter Wissenstransfer.
Und wo siehst du noch Potenzial für die Zukunft?
Oliver Bailer: Zum Beispiel im Bereich intelligenter Suchmaschinen rund um Technologie- und Marktthemen. Allgemeine Suchmaschinen wie Google finde ich immer weniger hilfreich, da sie kaum objektiv sind und zu viel Werbung enthalten. Bei KI-Anwendungen wie ChatGPT stellen sich dagegen Fragen wie Quellensicherheit und Vertraulichkeit. Deshalb prüfen wir derzeit den Einsatz einer internen, proprietären KI-Lösung.